Wie die Textilindustrie das Gesicht der Stadt prägte
von Karl Boland
Das "Gesicht einer Stadt" besteht – eben wie ein Menschengesicht – aus mehreren typischen Merkmalen, woran man eine Stadt erkennen kann. Das sind die Wohn- und Fabrikgebäude, die Plätze, die Infrastruktur (Straßen, Schienen, Kanäle, Türme etc.) aber auch die Geräusche und die Gerüche in einer Stadt.
Leider macht die moderne Entwicklung Städte immer ähnlicher – man kann auch austauschbarer sagen. Doch parallel zu diesem Megatrend bemüht sich die private und die öffentliche Denkmalpflege, die noch vorhandenen Zeugnisse aus der Zeit der historischen Stadtentwicklung zu bewahren und zu pflegen. Viele Städte haben ihr "Gesicht" im Zuge der Industrialisierung im 19. und frühen 20. Jahrhundert erhalten, wenn wir von alten Festungs- und Residenzstädten einmal absehen. Nicht vergessen dürfen wir die Folgen des II. Weltkrieges in Deutschland, die für einige stark zerstörte Städte zu einem mehr oder minder "neuen Gesicht" im Zuge des Wiederaufbaus führten. Übrigens nicht immer zu deren Vorteil.
Mönchengladbach und Rheydt sind typische Industriestädte am Niederrhein, die ihren Aufstieg der Expansion der industriellen Baumwollverarbeitung seit der Franzosenzeit verdanken. Die am Niederrhein traditionelle Leinenherstellung auf Handverarbeitungsbasis neben der Landwirtschaft war die Voraussetzung für den Einstieg von Unternehmern, die zuerst Zweigbetriebe vom Bergischen auf die linke Rheinseite an den Niederrhein brachten und nach der Errichtung der französischen Zollgrenze am Rhein ihre Betriebe ganz dorthin verlagerten. Statt der auf heimischen Feldern geernteten Flachsfaser kam mehr und mehr die aus Amerika und Ägypten importierte Baumwolle zur Verarbeitung.
Die Franzosen hatten seit ihrer Ankunft im Jahr 1794 das alte Feudalsystem am linken Rheinufer abgeschafft und einer noch quantitativ überschaubaren Bürgergesellschaft zahlreiche Möglichkeiten unternehmerischen Handelns eröffnet. Zusätzlich besetzten sie die ehrenamtlichen Bürgermeisterstellen mit wirtschaftlich erfolgreichen Bürgern. Die 1802/03 durchgeführte Säkularisierung der Klostergüter zugunsten der französischen Staatskasse sorgte für eine unglaubliche Umwälzung des Grund- und Bodeneigentums zugunsten jetzt bürgerlicher Eigentümer und dies natürlich mit den entsprechenden spekulativen Begleiterscheinungen. Jetzt jedenfalls konnten sich investitionslustige Unternehmer in den Besitz von Grundstücken und Gebäuden bringen, um darin gewerbliche „Etablissements“ zu errichten. Die Kirche verfügte damals über einen sehr umfangreichen Grundbesitz, der nun in den Besitz von Privatleuten überging und damit selbst zum Handelsgegenstand wurde. Eine in dieser Dimension völlig neue Erscheinung gegenüber dem alten Feudalstaat.
Bevor es zum Einsatz weitgehend aus England importierter Textilmaschinen kam, geschah die Textilverarbeitung noch im Verlagssystem. D.h., dass der Unternehmer "seine" jeweils in ihrem eigenen Hause arbeitenden Handweber mit Material ausstattete und ihnen die fertig gewebte Ware abkaufte. Die vom rechten Rheinufer übergesiedelten Unternehmer waren protestantischer Konfession, so dass sich in den meist katholischen Städten des Niederrheins eine neue protestantische Oberschicht aus Kaufleuten und Fabrikanten bildete. Anders lagen die Verhältnisse in Rheydt, da hier bis 1900 die Mehrheit der Einwohner protestantisch war und die Oberschicht auch weiterhin dieser Konfession angehörte. Die nach Rheydt aus dem Umland zuwandernden Arbeiter waren dagegen katholisch und diese stellten ab 1905 die Einwohnermehrheit in Rheydt. Die zuwandernden Katholiken siedelte man damals vorwiegend im Westen der Stadt, also in Pongs und Morr an. An den sozialen Schichtungsverhältnissen in Rheydt änderte das allerdings bis weit ins 20. Jahrhundert nichts: Weiterhin besetzten die Protestanten die oberen sozialen Positionen und die Katholiken stellten die Arbeiterschicht. Erst kurz vor dem I. Weltkrieg gelang dem katholischen Mittelstand der soziale Aufstieg und z.B. auch der Einzug mit seiner Zentrumspartei in die Rheydter Stadtverordnetenversammlung.
Als die Preußen ab 1815 die Herrschaft am Niederrhein übernahmen, ließen sie vieles beim Alten, denn die rheinische bürgerliche Klasse hatte die Vorzüge der französischen Verwaltung und Rechtsprechung zu schätzen gelernt. So entwickelte sich das Rheinland auf sehr viel moderneren Grundlagen, als wir sie zu dieser Zeit insbes. in den preußischen "Kernlanden" im Osten finden. So ganz traute die preußische Obrigkeit ihren rheinischen Neubürgern nie über den Weg, denn erstens waren die Rheinländer überwiegend Katholiken und zweitens hatten sie Gefallen an französischen Verhältnissen gefunden. Nicht zuletzt deswegen wurden im Rheinland über lange Jahre vorwiegend Oberbürgermeister mit evangelischer Konfession bestätigt und auch die Landräte hatten über jeden preußenfeindlichen Zweifel erhaben zu sein. Da in Rheydt bekanntlich bis vor dem I. Weltkrieg mehrheitlich Protestanten wohnten, fühlte man sich dort als "Eckstein der Monarchie" im Westen. Damit wollte das Rheydter Bürgertum seine besondere Königstreue und (nach der Reichsgründung 1871) seine Zuverlässigkeit im preußisch-deutschen Abwehrkampf gegenüber Frankreich ausdrücken.
Schon immer waren die Kinder einer Weberfamilie mit in die alltägliche Arbeit eingebunden gewesen. In den nun im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nach und nach entstehenden Textilfabriken wurden sie ebenfalls stark eingesetzt und erhöhten damit das ohnehin kärgliche Familieneinkommen. Auch die in Preußen eingeführte Schulpflicht änderte zuerst an dieser Tatsache nichts, da die Fabrikanten Fabrikschulen einrichteten, in denen die Kinder neben der Arbeit einige Stunden am Tag unterrichtet wurden. Erst der katastrophale Gesundheitszustand der jungen Rekruten für das preußische Heer, der bei der Musterung den Beamten ins Auge fiel, sorgte für eine Schutzgesetzgebung für Fabrikkinder ab Ende der 30er Jahre. Die Kinderarbeit zog sich aber am Niederrhein noch bis weit ins 19. Jahrhundert hin und wurde dann von der Frauenbeschäftigung quasi abgelöst. In den Spinnereien und Webereien wurden mitunter mehr Frauen als Männer beschäftigt. Die Frauen kamen manchmal schon mit 15 Jahren nach Ende der Schulpflicht in die Fabrik und arbeiteten 10 bis 12 Stunden am Tag – sechs Tage die Woche. Zahlreiche junge Frauen wurden von den Fabriken von auswärts angeworben und suchten sich in Mönchengladbach oder Rheydt eine Wohnung. Die Frauen waren unverheiratet und machten am Wochenende sozusagen "die Tanzböden unsicher". Die große Überzahl junger, unverheirateter Frauen in der Stadt sorgte in den Augen der für die sittlichen Fragen damals zuständigen Kirchenvertreter für den Einsatz sozialer Arbeit. So entstand z.B. das erste Arbeiterinnen-Hospiz von katholischer Seite oder das Kosthaus "Haus Zoar" der evangelischen Kirchengemeinde. Ab Ende des 19. Jahrhunderts engagierte sich der Volksverein für das katholische Deutschland für sie soziale Lage der Fabrikarbeiterinnen. Er akzeptierte zwar die Fabrikarbeit von Frauen, bot aber gleichzeitig am Sonntag Hauswirtschaftskurse an, damit diese jungen Frauen als spätere Hausfrauen und Mütter nicht ´versagten´. Den Männern bot man solcherlei Kurse nicht an.
Die massenhafte Beschäftigung von Frauen in der Textilindustrie brachte auch die traurige Begleiterscheinung einer erhöhten Säuglingssterblichkeit mit sich. Fast jedes 5. Kind starb vor dem I. Weltkrieg in Gladbach/Rheydt im Laufe des ersten Lebensjahres. Man machte dafür das frühe Abstillen der Fabrikarbeiterinnen bzw. den gänzlichen Verzicht auf das Stillen verantwortlich. Eine Mutterschutzzeit mit Lohnausgleich gab es erst in den Weimarer Jahren. Die Stadt Mönchengladbach richtet ab 1907 eine "Kindermilchanstalt" ein, über die Säuglinge mit keimfreier und gekühlter Kuhmilch versorgt wurden. Weiterhin stellte man Säuglingsschwestern ein, die die jungen Mütter in allen Fragen der Säuglingspflege berieten. So konnte die Säuglingssterblichkeit besonders nach 1919 deutlich gesenkt werden.
Ein anderes Problem war die starke Verbreitung der Tuberkulose unter den Menschen in der Textilindustrie. Die Menschen waren ohnehin körperlich schwach, sie arbeiteten bei Staub und Lärm und wurden so anfällig für diese sog. Krankheit der armen Leute. Ein weiteres taten die oft beengten und feuchten Wohnverhältnisse dazu. Hier schuf die private Stiftung der Lungenheilstätte durch Louise Gueury, einer reichen Mönchengladbacher Erbin, die an TBC starb, im Hardter Wald ab 1906 viel Gutes. Für Männer stand die Franziskus-Lungenheilstätte zur Verfügung.
Spätestens ab 1850 setzte in Mönchengladbach und Rheydt ein starkes Bevölkerungswachstum ein, dass durch Geburten und durch Zuwanderung aus dem Umland gespeist wurde. Erst vor dem I. Weltkrieg kommt dieses Wachstum zur Ruhe. Das Problem des Wohnungsbaus für die zahlreich zuziehenden Arbeiterfamilien in die Stadt wurde ab 1869 durch die Gladbacher Aktienbau-Gesellschaft in Angriff genommen. Einige Jahre später engagierte sich in Rheydt eine ähnliche Gesellschaft ebenso für den Bau von Häusern für Arbeiterfamilien, die durch regelmäßige Zahlungsraten in das Eigentum der Arbeiter übergingen. Diese sog. Cottage-Häuser boten zwei Familien Platz und hatten einen Garten. Gründer dieser Aktien-Gesellschaften waren übrigens die Gladbacher und Rheydter Textilunternehmer, die über diesen Weg den zahlreichen Bau spekulativer „Mietskasernen“ verhindern konnten. Andererseits entstand auch kein größerer Bau von Werkssiedlungen, wie wir sie als Zechenkolonien im Ruhrgebiet kennen.
Mit dem Bau der Eisenbahn seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts wurde die Gesellschaft am Niederrhein im wahrsten Sinne mobil. Waren und Menschen konnten nun über weite Entfernungen in großer Zahl schnell transportiert werden. Die Eisenbahn beschleunigte die Industrialisierung unglaublich – so wie die Dampfmaschine die Abläufe in den Fabriken revolutionierte. Die Eisenbahntrassen und Bahnhöfe teilten die Stadt nun in einzelne Zonen auf, in denen sich einerseits Fabriken und andererseits die Arbeiter niederließen. Später kam noch die Straßenbahn (erst als Pferdebahn) als Nahverkehrsmittel dazu, das den in der Regel am Stadtrand (in den Honschaften) lebenden Arbeitern den Weg zu den Fabriken verkürzte bzw. überhaupt erst ermöglichte. Die wohlhabenden Bürger wohnten damals übrigens noch in der Stadtmitte in repräsentativen Villen. Hier schufen sie sich auch ihre Gesellschaftshäuser, in denen sie nach Feierabend oder zu besonderen Festen unter sich sein konnten. Nach Konfessionsgruppen getrennt entstanden so die "Erholung" und das "Casino" in Mönchengladbach und die "Harmonie" in Rheydt. Damit auch das bürgerliche Kulturleben einem großstädtischen Anspruch gerecht werden konnte, wurde zum Teil aus privaten Mitteln vor dem I. Weltkrieg die "Kaiser-Friedrich-Halle" in Mönchengladbach gebaut.
Mit den zahlreicher werdenden Fabrikbauten in der Stadt entstanden immer mehr Kamine, die ihren schwarzen Rauch über die Stadt verteilten. Je nachdem, wie der Wind stand, hing eine dichte Dunstglocke über der Stadt. Da die Textilindustrie stark wasserabhängig ist, siedelten sich die Fabriken an Wasserläufen an und gaben ihr Abwasser wieder zurück in den Flusslauf z.B. der Niers, des Alsbaches oder des Gladbaches. Bei Hochwasser ergoss sich das stark mit Abwasser der Färbereien durchsetzte Flusswasser in die umliegenden Wiesen und hinterließ hier eine frühe Ökokatastrophe der Industrialisierung.
Das Wachstum der Stadt, die Zunahme der Fabriken, die Zunahme des Verkehrs auf Straßen und Schienen erforderte immer neue Investitionen in die kommunale Infrastruktur. So entstanden nach und nach ein Elektrizitätswerk, ein Gaswerk, neue Wassertürme und -pumpwerke, Straßenbahnhallen und Kanalsysteme, die einerseits finanziert und andererseits auch betrieben und verwaltet werden mussten, was wiederum die Stadtverwaltungen zu großen Verwaltungsapparaten anwachsen ließ.
Wir können an diesen wenigen Bemerkungen bereits ablesen, wie sehr sich das „Gesicht der Stadt“ aus ihrer Geschichte der letzten ca.150 Jahre ableiten lässt. Wenn auch die Abtei mit Ihrer Münsterkirche immer noch die "Krone der Stadt" Mönchengladbach bildet, die Stadt kann sich nicht mehr als die "Stadt der Mönche" bezeichnen, so wie sie die Franzosen noch kennen gelernt und dann gründlich verändert haben. Die "Ritter vom Schwert" als die vormaligen Landesherren wurden zwar von den Franzosen vor mehr als 200 Jahren am Niederrhein vertrieben, doch haben dann die "Ritter vom Kapital" die Herrschaft übernommen und die Stadt quasi nach ihrem Ebenbilde – nämlichen den Erfordernissen der aufstrebenden Wirtschaft – gestaltet. Das "Gesicht der Stadt" trägt immer noch starke Züge diese Zeit.
Der Erzähler und Autor:
Karl
Boland ist in zahlreichen kulturellen,
sozialen und politischen Einrichtungen der
Stadt Mönchengladbach aktiv. U.a. ist er
Vorsitzender des Stadtkulturbund
Mönchengladbach e.V. und Träger des Rheinland-Talers.
|